IPG-Journal • Filip Milačić
Autokratische Amtsinhaber gewinnen Wahlen, obwohl sie die Demokratie unterwandern. Warum finden sie die Zustimmung eines Großteils der Wählerschaft?
Stellen Sie sich ein Land vor, in dem eine große Mehrheit der Bevölkerung die Demokratie als Regierungssystem schätzt. Nun stellen sie sich ebenfalls vor, dass dessen Herrscher die Demokratie durch „Säuberungen“ der Justiz und Inhaftierungen von Journalisten und oppositionellen Politikern kontinuierlich untergräbt. Gleichzeitig verschlechtert sich der Lebensstandard der Bevölkerung in diesem Land massiv, was sich in einer jährlichen Inflationsrate von 72,3 Prozent ausdrückt. Nun gibt es in diesem Land eine Wahl, bei der dieser Amtsinhaber abgewählt werden könnte. Und trotzdem setzt er sich durch. Ein kaum erdenkbares Szenario, doch genau das ist Ende Mai in der Türkei passiert. Und diese ist kein Einzelfall. Viele Politiker auf der ganzen Welt, die aus dem Amt heraus die Demokratie unterwandert haben, genießen immer noch die Unterstützung großer Teile der Wählerschaft. Demokratisch gesinnte Wählerinnen und Wähler stimmen also auch dann für Politiker, wenn diese erwiesenermaßen autoritäre Tendenzen haben. Doch warum tun sie das?
Jeder Entscheidung zur Unterstützung einer Partei oder eines Kandidaten gehen Kompromisse voraus. Dabei müssen Präferenzen in eine Rangfolge gebracht werden, da es höchst unwahrscheinlich ist, dass ein einziger Kandidat alles abdeckt. Und hier ziehen es viele Wählerinnen und Wähler vor, konkrete Interessen vor abstrakten zu verfolgen. Genau diesen Punkt haben die neuen Autokraten in aller Welt sehr gut verstanden.
Wirtschaftliche Not ist sicherlich keine gute Voraussetzung für eine Wiederwahl, trotzdem ist sie kein Garant dafür, dass ein autoritärer Amtsinhaber dafür verantwortlich gemacht wird. Insbesondere, wenn er oder sie die wichtigsten Medien kontrolliert und so ein Sündenbock-Narrativ kreieren kann. Hinzu kommt, dass auch in Ländern mit freier Presse die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Lage häufig parteipolitischen Tendenzen folgt. Die Wählerinnen und Wähler beurteilen die Lage tendenziell positiver, wenn ihre favorisierte Partei an der Macht ist. Die allgemeine Wirtschaftslage ist für einen Großteil der Wählerschaft schlicht zu abstrakt, um sie konkret einschätzen zu können.
Was die Wähler jedoch konkret spüren, sind wirtschaftspolitische Maßnahmen, die ihren Lebensstandard verbessern. Diese setzen die Amtsinhaber oft bewusst im Vorfeld der Wahl ein, damit sie mit ihrer Herrschaft sowie ihnen persönlich verbunden wird: sei es die Erhöhung des Mindestlohns und Gehaltserhöhungen für Staatsbedienstete in der Türkei, die Rentenerhöhung in Serbien, die Kindergelderhöhung in Polen oder Steuererleichterungen für Reiche in den USA. Darüber hinaus missbrauchen Autokraten auch staatliche Ressourcen, indem sie ihren Anhängerinnen und Anhängern im Austausch für ihre Stimmen Vorteile in Form von Bargeld, Arbeitsplätzen und anderen staatlichen Leistungen gewähren.
Der Schutz der bedrohten Nation wird so zu einem vorrangigen Ziel, dem alles andere untergeordnet wird.
Allerdings ist der Klientelismus nur eine Seite des Erfolgs der Autokraten. Die Untergrabung der Demokratie durch die Versetzung von Richtern in den Vorruhestand, die Ersetzung der Leitung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten oder die Unterdrückung von Parlamentsdebatten ist zu abstrakt, als dass viele Wähler darin einen direkten Angriff auf ihre persönlichen Interessen sehen könnten. Wer doch erkennt, dass die Untergrabung der Demokratie auch seinen persönlichen Interessen schadet, lässt sich beeinflussen: Wenn man den Bürgerinnen und Bürgern erzählt, dies geschehe im Namen des Schutzes der gefährdeten Nation, werden selbst demokratiebewusste Wähler gegenüber einem solchen Verhalten toleranter.
Tatsächlich ist eine solche Aktivierung von Angst und Ressentiments in der Bevölkerung eine weitere wichtige Säule des Erfolgs von Autokraten. Dazu wird zunächst ein eindeutiger Feind der Nation geschaffen: Im Äußeren in der Gestalt von Brüssel, dem Westen oder Einwanderern aus muslimischen Ländern, oder im Inneren in der Gestalt liberaler Eliten sowie ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten. Daraufhin stellen sich Autokraten als diejenigen dar, die sich um die Wahrung der Interessen der Bevölkerung kümmern. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, stellen sie demokratische Normen und Grundsätze als Hindernisse dar, die es zu beseitigen gilt. Und im Angesicht einer angeblichen Bedrohung der Nation ignorieren viele Wählerinnen und Wähler diese Untergrabung der Demokratie.
Der Schutz der bedrohten Nation wird so zu einem vorrangigen Ziel, dem alles andere untergeordnet wird – selbst in etablierten Demokratien. Dies erklärt zum Beispiel die Entscheidung vieler Amerikanerinnen und Amerikaner, Trumps Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit zu ignorieren – einschließlich der jüngsten strafrechtlichen Vorwürfe im Zusammenhang mit einer Schweigegeldzahlung und dem Diebstahl geheimer Dokumente. US-Bürger, die sich Sorgen um die nationale Identität machen, tauschen abstrakte Interessen in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit gegen ein konkretes Interesse aus. Für sie ist Trump derjenige, der die konservative Mehrheit im Obersten Gerichtshof gesichert hat, welche die angeblich gefährdete nationale Identität schützen wird, etwa durch die Einschränkung des Rechts auf Abtreibung. Leider folgten in Ländern wie Ungarn, der Türkei, Serbien oder Polen viele Wählerinnen und Wähler derselben Logik. Denken Sie nur an das jüngste „Lex Tusk“-Beispiel und seine Rechtfertigung.
Wie sollten progressive Akteure auf die Strategie von Autokraten reagieren, konkrete Interessen zu befriedigen, um einen Freifahrtschein dafür zu erlangen, die Demokratie auf subtile und abstrakte Weise zu untergraben? Indem sie einerseits die Macht von Emotionen wie Angst und Ressentiments in der Politik anerkennen und sich andererseits auf konkrete Verbesserungen des Lebensstandards der Bevölkerung konzentrieren. Wer Ersteres ignoriert und Letzteres mit dem Wachstum des Bruttoinlandprodukts gleichsetzt, macht es Autokraten zu leicht.
Ursprünglich erschienen im IPG-Journal, 25. Juli 2023
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